Bergpunkt

Bergsteigen als blinder Mensch

Das Wildhorn im «Dunkeln»

Laila Grillo sieht nichts. Jedenfalls nicht mit den Augen. Doch Landschaften sieht sie sehr wohl, ganz besonders, wenn sie in den Bergen ist. Nach einer bergpunkt-Tour auf das Wildhorn erzählt sie uns von Bergseen und Gletschern. Und davon, wie sie dank einer Freundin und einem Glöckchen auf Gipfel steigt.

 

 

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In den Bergen und am Fels bin ich seit 2006 immer wieder einmal anzutreffen. Es ist ein fantastisches Gefühl, den Fels unter den Fingern zu spüren, den Wind in den Bergen in den verschiedensten Facetten pfeifen zu hören oder sich am Geruch von wildem Thymian und anderen Alpenpflanzen zu erfreuen. Dennoch war das Wildhorn etwas besonderes: Es war meine erste Hochtour auf einen Dreitausender.

Der Weg zur Cabanne des Audannes im Wallis schlängelte sich durch Alpwiesen und kleinere Waldbestände mit knorrigen Bäumen. Erst begleitete uns noch die Wärme des Tals. Auf der Hütte verliess sie uns dann. Dafür hatten wir dort einen grandiosen Ausblick auf die Gletscher und einen kleinen Bergsee.

Am zweiten Tourentag folgte der Aufstieg auf den Col des Eaux Froides, der seinem Namen alle Ehre macht. Beim Aufstieg waren Bäche zu überqueren, überall sprudelte Wasser über Steine und aus diesen hervor. Kalter Wind auf der Passhöhe trug das Übrige zum Namen bei.

Der Aufstieg über den Gletscher zum Gipfel war ebenfalls ein Erlebnis für sich: Das Knirschen unter den Steigeisen, der Wind, der über den Gletscher strich, die Verbundenheit am Seil und das geniale Gefühl, den Gipfel erreicht zu haben – was möchte man mehr!

Was natürlich nicht alleine geht. Auf der Tour war eine gute Freundin von mir dabei. Mit ihr habe ich auch meine ersten Kletterversuche in der Halle gemacht. Sie war unterwegs quasi «mein» Sehvermögen und sagte mir Stufen an, führte mich über schwierigere Passagen auf Schneefeldern, beschrieb mir die Landschaft und dirigierte mich auch sicher den Abstieg hinunter. Ich bin mit mehreren Freundinnen und Freunden in den Bergen unterwegs.

Ständige Kommunikation ist gefragt, wobei es kein «Rezept» für Beschreibungen oder Kommandos gibt. Das Überqueren von Blockgelände nach dem Col des Eaux Froides etwa war ein Abenteuer. Meine Freundin sagte mir an, wohin zu treten, gleichzeitig machten wir Handführung und sprangen teils von Fels zu Fels – das war eine Herausforderung. Aber wir meisterten sie gut.

Beim Abstieg war dann das Klopfen der Wanderstöcke an den Steinen oder das Festhalten am Rucksack der Freundin meine Orientierungshilfe. So spüre ich zum Beispiel, wie hoch eine Stufe ist. Überhaupt zeigen mir Geländeneigungen oder Echos von Felswänden oder Steinen jeweils an, wie es um mich herum «aussehen» könnte. Auch ein Glöckchen mit einem hellen Ton, am Rucksack befestigt, gibt mir nicht nur Orientierungshilfe, sondern «malt» auch ein Bild der Landschaft, da der Hall immer anders klingt.

Zum Schluss folgte der Anblick des türkisblauen Iffigensees in Kombination mit den rosa und gelben Alpenblumen, welche die Wiesen übersäten – einfach herrlich! Solche Bilder bleiben mir in Erinnerung. Ebenso alle Geräusche, die ich auf einer Tour höre, wenn die Konzentration dies zulässt. Auch die Stille mag ich, die während einer Rast eintreten kann, oder die einen einhüllt, wenn man über den Gletscher geht oder auf Skis einen frisch verschneiten Hang hinaufsteigt. Sie ist für mich einer der schönsten Klänge in den Bergen.

Insgesamt ist das Bergsteigen für mich eine Möglichkeit abzuschalten. Und es erlaubt mir, die Natur in ihrer Rauheit und gleichsam Schönheit mit allen Sinnen zu erleben.

Laila Grillo ist 29 Jahre alt und lebt in der Ostschweiz. Sie studiert Agronomie im Master an der Berner Fachhochschule und arbeitet freiberuflich für das Agrarmagazin «Die Grüne» sowie gelegentlich für Procap, eine der grössten Organisationen für Menschen mit einer Behinderung in der Schweiz; in diesem Rahmen sensibilisiert sie Schulklassen und Lokomotivführer. Zu ihren Hobbys gehören – nebst Bergtouren – das Skifahren, Wandern, Reisen und Kochen.