Schnee ohne Ende?
Ein Rückblick auf die Schneelage im Winter 2023/2024
von Fabian Umbricht, Bergführer bei bergpunkt und Meteorologe bei Meteotest - 4. Juni 2024
Die Schneesituation diesen Winter war durchaus aussergewöhnlich. In den tiefen Lagen war der akute Schneemangel ein Dauerbrenner. Es gab zwar Tage mit ausreichend Schnee bis in tiefe Lagen, aber sie waren selten. Gleichzeitig verzeichneten einige Messstationen in der Höhe Rekordschneemengen. Und anstatt «nur» der Schneebrett-Problematik war den ganzen Winter durch auch die Gleitschnee-Problematik zu managen.
Doch welche Faktoren führten dazu, dass der Winter 2023/2024 so aussergewöhnlich ausfiel? War das tatsächlich ein besonderes Ereignis oder sind solche Winter aufgrund der klimatischen Veränderungen der neue Standard? Und war ein solcher Winterverlauf vorhersehbar?
Was sind die Fakten?
Zugegeben, die Winterzusammenfassung in der Eröffnung ist etwas subjektiv. Vielen Bergsportlern dürfte der Winter 2023/24 aber tatsächlich etwa so im Gedächtnis bleiben: Unten grün, oben Schnee en masse – und das bis in den meteorologischen Sommer hinein.
Doch sobald man sich mit Wetter oder Klimatologie befasst, sind objektive, vergleichbare Zahlen und Messwerte essentiell. Eine Analyse der Schneehöhen vom SLF zeigt eindeutig: Vom November an waren die Schneehöhen zwischen 2250 und 2750 m.ü.M. durchgehend überdurchschnittlich, sowohl am südlichen wie auch nördlichen Alpenhauptkamm. Im Norden gehörten insbesondere die erste Dezemberhälfte und die Phase von März bis Ende April zu den schneereichsten seit dem Winter 1960/61. Im Süden sticht vor allem die Phase von Mitte März bis Mitte April als eine der schneereichsten seit 1960/61 hervor.
Betrachtet man die Temperatur, wird ebenfalls schnell klar: Der Winter 2023/24 war deutlich wärmer als im klimatologischen Durchschnitt. Die Temperatur auf rund 1500 m.ü.M. lag in den Monaten Dezember bis Februar gut 2°C über dem Durchschnitt der offiziellen Normperiode 1990-2020 (Abbildung 1). Erst im April und Mai fiel der Temperaturüberschuss etwas geringer aus. Dieser Temperaturüberschuss von 2°C entspricht grob geschätzt einer rund 300 hm höheren Schneefallgrenze als in der Klimatologie. Es gab zwar durchaus Tage mit einer sehr guten Schneelage auch in den tiefen Lagen – über den ganzen Winter gesehen waren die Schneehöhen unterhalb von 1500 Metern jedoch mehrheitlich klar unterdurchschnittlich.
Auch die objektive Datenlage zeigt also, dass dieser Winter durchaus aussergewöhnlich war.
Wie kam es dazu?
Ein einfacher Erklärungsweg wäre: Aufgrund des Klimawandels werden Luft- und Meeresoberflächentemperaturen wärmer. Dadurch gelangt mehr Wasser in die Atmosphäre, was sich dann in einem nassen (=niederschlagsreichen) und warmen (=hohe Schneefallgrenze) Winter äussert. Tatsächlich zeigen Auswertungen, dass im Alpenraum in den Monaten Dezember bis Februar bedeutend (rund 10%) mehr Niederschlag fiel als im Durchschnitt von 1960-2024. Im März war es im Süden sogar dreimal so viel wie üblich (Abbildungen 2 & 3).
Die Realität ist dann aber doch etwas komplexer, es sind deutlich mehr Faktoren, die da mitmischen. Blickt man auf den vergangenen Winter zurück, so kann man die Grosswetterlage in rund drei bis vier verschiedene Phasen einteilen.
Phase 1: Der Frühwinter von November bis ca. Mitte Dezember war geprägt von anhaltendem Westwindwetter. Es gab nur selten einen Tag ohne Niederschlag, in rascher Abfolge zogen Tiefdruckgebiete und Fronten über die Schweiz hinweg. Dabei hatten die Tiefs auch immer wieder ganz anständige Kaltluft-Pakete aus Nordwesten im Gepäck, die wiederholt für (teils Rekord-) Schneefälle bis in tiefe Lagen sorgten. Wie typisch bei Westwindwetter, wurden diese Kaltluft-Pakete meist sehr rasch wieder ausgeräumt von den nächsten Fronten und damit war ein starkes Pendeln der Schneefallgrenze charakteristisch für diese Phase. Ab Mitte Dezember nahm der Tiefdruck-Takt etwas ab und es gab auch ein paar mehrtägige Schönwetterphasen. Der grundlegende Wettercharakter mit Wind aus Westen und einem Pendeln der Schneefallgrenze blieb aber bis über den Jahreswechsel hinaus erhalten.
Phase 2: Im Januar stellte die Wetterlage etwas um. Anstelle von endlosem, wochenlangem Westwind bauten sich einige Hochdruckgebiete auf, die die grossräumige Zirkulation zumindest für mehrere Tage ablenkten, so dass auch mal ein paar Tage mit kontinentaler Kaltluft aus Osten (zweite Januarwoche) oder mit subtropischer Warmluft (letzte Januarwoche) auf dem Programm standen. Auch im Februar gab es noch einige Phasen, in denen Hochdruckgebiete die Alpen vom Jetstream und der Zugbahn der Tiefdruckgebiete abschirmten.
Phase 3: Der grosse Wechsel kam dann aber in der zweiten Hälfte des Februars. Mit einem blockierenden Hoch über dem westlichen Atlantik wurde der Jetstream in eine starke Wellenbewegung versetzt und die Zugbahn der Tiefdruckgebiete über Europa verschob sich nach Süden. Damit folgten Ende Februar und vor allem im März und April gleich mehrere, aufeinanderfolgende und ausgeprägte Südstaulagen. Stürmischer Föhn und intensive Neuschneefälle im Süden prägten diese Phase.
Phase 4: Im April liess die Häufigkeit der Südstaulagen wieder etwas nach, dafür meldete sich die subtropische Warmluft – im Wechsel mit kräftigen Vorstössen von kalter Polarluft mit Nordstaulagen – wieder zurück. Und auch im Mai gelang immer wieder schubweise kühlere Luft und damit unbeständiges und eher nasses Wetter zu den Alpen.
Die Bilanz des Winters lässt sich also nicht nur durch Niederschlagssumme und Temperatur erklären, sondern sie ist primär ein Resultat des Verlaufs und der Muster in der grossskaligen atmosphärischen Zirkulation. Das Muster der grossskaligen atmosphärischen Zirkulation wird zum grössten Teil durch den Jetstream – ein Starkwindband in rund 8-10 km Höhe – angetrieben und beschrieben. Im Winterhalbjahr ist der Jetstream wiederum recht stark an den stratosphärischen Polarwirbel gekoppelt. Ist der Polarwirbel stark, weht der Jetstream stark von West nach Ost. Schwächt sich der Polarwirbel ab, beginnt der Jetstream in Wellen zu mäandrieren, die Tiefdruckgebiete bewegen sich vermehrt von Süden nach Norden oder umgekehrt oder es treten sogar blockierte Wetterlagen auf. Nun weiss man, dass der Polarwirbel wiederum von verschiedenen Faktoren beeinflusst wird. Das El-Niño-Phänomen im Pazifik ist wichtig, aber ebenso die Meeresoberflächentemperaturen im Nordatlantik, die Eisbedeckung im Polarmeer oder die Schneebedeckung in Sibirien. Welche Faktoren jedoch wie mitspielen, ist immer noch Gegenstand der aktuellen Forschung. Es scheint wahrscheinlich, dass das diesjährige Muster in der El-Niño-La-Niña-Zirkulation (ENSO, sehr starker El-Niño zum Winterbeginn und dann langsamer Rückgang und Tendenz zu Übergang zu La Niña im Laufe des Sommers 2024) ein wichtiges Puzzle-Teil in der Entwicklung der Grosswetterlagen in der Nordhemisphäre war. Es ist jedoch nicht möglich, diesen Einfluss genauer zu quantifizieren, da noch viele andere Puzzle-Teile mitwirken, über die zum Teil noch sehr wenig bekannt ist.
Eine Analyse der NOAA (National Oceanic and Atmospheric Administration) zeigt beispielsweise, dass der Winter 2023/24 auch ohne den generellen Trend zu wärmeren Temperaturen, der in den letzten 60 Jahren global zu beobachten ist, in Europa deutlich wärmer als der Durchschnitt ausgefallen wäre.
Zusammengefasst lässt sich sagen, dass der Winter 2023/24 sowohl aussergewöhnlich als auch zugleich neuer Standard sein könnte. Die Muster in der atmosphärischen Zirkulation und die daraus resultierenden Niederschlagsmengen über die ganze Saison sind in dieser Form sicherlich eine sehr aussergewöhnliche Kombination, die aufgrund der ENSO-Muster, der Entwicklung des Polarwirbels und weiteren Faktoren nur selten auftreten. Die Schneehöhen, die Ende Saison im Bereich der Rekordwinter 1998/99 («Lawinenwinter») und 1974/75 lagen, lassen vermuten, dass solche schneereichen Winter etwa alle 20-25 Jahre zu erwarten sind. Es wird weiterhin Winter mit deutlich geringeren Niederschlagssummen und Winter mit ähnlichen Niederschlagssummen geben.
Anders sieht es bei Temperatur und Schneegrenze aus: Die überdurchschnittlich hohen Temperaturen des vergangenen Winters sind zwar nicht alleine auf den globalen Klimawandel zurückzuführen, sondern sind ebenfalls ein Resultat der aussergewöhnlichen Kombination der atmosphärischen Muster. Es ist jedoch Tatsache, dass aufgrund der globalen Klima-Änderung auch ohne solche aussergewöhnlichen Muster Temperaturen im Bereich von 2° über dem Durchschnitt zur Norm gehören und somit bezüglich Schneegrenze der vergangene Winter tatsächlich aufzeigt, was in Zukunft auch in «normalen» Wintern wohl zum Standard gehören wird.
Portrait von Fabian
Aufgewachsen am Jurasüdfuss besuchte ich als Jugendlicher jegliche Touren im Programm der JO Weissenstein. Später absolvierte ich alle von Jugend&Sport angeboteten Leiterausbildungen für Bergsport im Sommer und Winter, um Touren und Lager durchführen zu dürfen. Mein Interesse galt schon immer einem breiten Spektrum von Sportarten und den Jahreszeiten entsprechend verbrachte ich seit meiner Jugend unzählige Tage beim Klettern, klassischen Bergsteigen, auf steilen Skitouren, und beim Eisklettern. Vor rund 10 Jahren wurde ich schliesslich noch vom Gleitschirm-Virus infiziert und verbringe seither viele Stunden auch in der Luft beim Streckenfliegen.
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